Ausgabe 3 / 7. April 2023 |
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| | Postkartenmotiv zum Festival Off Europa Heimat Landschaften © Gabi Altevers |
| KörperheimatZuhause im Ich |
| Liebe Leserinnen und Leser, schön, dass Sie unseren Newsletter abonniert haben. Die siebenteilige Annäherung an unser diesjähriges Festivalmotto “Heimat Landschaften” widmet sich den Facetten, die dieses Thema bietet. Jeder Newsletter hat einen spezifischen Fokus, liefert Hintergründe zum Programm und befragt Menschen, die in Sachsen oder anderswo wichtige Kulturarbeit leisten, ergänzt von literarischen Texten und ausgewählten bildnerischen Arbeiten. Die dritte Ausgabe beschäftigt sich mit dem Körper als unserem Zuhause.
Viele Themenfelder öffnen sich zwischen Selbstbild und Außenwahrnehmung, zwischen biologischem und sozialem Geschlecht, zwischen Akzeptanz und Selbstoptimierung, zwischen Krankheit, Alter und dem unausweichlichen Ende.
Amanda Leduc, Autorin des Buches “Entstellt - Über Märchen, Behinderung und Teilhabe” fordert neue, andere, kraftvollere Geschichten. Der Choreograph und Tänzer Sascha Paar erzählt von Chemnitz als Wahlheimat und reflektiert über die Wichtigkeit der aktuellen Genderdebatte. Regisseurin Eliška Říhová und Schauspielerin Alžběta Nováková stellen ihr Stück “Arrival” vor, das schwerbehinderte Menschen auf die Theaterbühne bringt. Dazu gibt es eine kompakte Programmvorschau zu Körperheimat beim diesjährigen Festival. Lavinia Chianello begleitet den Newsletter künstlerisch und Silke Weizel denkt in ihrem exklusiv veröffentlichten Gedicht über das Ich (und das Du) nach.
Wir freuen uns über Ihr Interesse. Empfehlen Sie uns gern weiter, und besuchen Sie unsere Aufführungen im Mai 2023 in Leipzig, Dresden oder Chemnitz.
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| | Amanda Leduc studierte Kreatives Schreiben und Philosophie in Victoria (Kanada) und St. Andrews (Schottland). Sie schreibt Essays, Erzählungen und Romane und lebt in Hamilton, Ontario, wo sie für das Festival of Literary Diversity (FOLD) arbeitet, Kanadas erstes Literaturfestival für diverse Autor*innen und Geschichten. |
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| Ihr Buch (Entstellt - Über Märchen, Behinderung und Teilhabe) wirft ein Schlaglicht auf behindertenfeindliche Narrative in alten Märchen und deckt deren Wiederholung in neueren Versionen der Geschichten und sogar in den dazugehörigen Filmen auf. Wie sind Sie dazu gekommen, sich diesem Thema zu widmen? Ich bin eine Schriftstellerin mit Behinderung, habe mich aber erst mit 30 Jahren als solche zu erkennen gegeben. Das lag zum großen Teil an dem Mobbing, das ich als Kind aufgrund meiner Gehbehinderung erfahren habe. In meinen Teenagerjahren und Zwanzigern habe ich lange Zeit versucht, so zu tun, als ob mein Körper “normal” wäre und ich nicht behindert. Erst als ich in meinen Dreißigern war und anfing, Aktivist:innen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu treffen und mit ihnen zu interagieren, begann ich, all die verinnerlichte Behindertenfeindlichkeit, die ich mit mir herum trug, auszupacken und zu reflektieren - und ein großer Teil dieser verinnerlichten Feindlichkeit gegenüber Behinderten war in mir als Folge der Geschichten gewachsen, die ich als Kind gelesen und geliebt hatte. All die Märchen, die ich verschlungen hatte, all die Disney-Filme - so viele von ihnen enthielten ableistische Erzählungen! Als mir das klar wurde, musste ich darüber schreiben - nicht nur, um zu verstehen, wie diese Geschichten mich geprägt haben, sondern auch, um herauszufinden, wie wir beginnen können, neue Geschichten zu erzählen. In dem Buch sprechen Sie auf eine sehr persönliche Weise über Ihre eigenen Einschränkungen (leichte Zerebralparese plus spastische Halbseitenlähmung, die zu Gleichgewichtsstörungen und leichtem Hinken führt), sie stellen eine Verbindung zur Analyse der Märchen her und geben sogar einen Einblick in medizinische Berichte. Sie sagen dazu: "Ich möchte meine Geschichte zurückfordern!" Können Sie beschreiben, was Sie damit meinen? Als ich als behindertes Kind aufwuchs, wurde mir durch die Bücher, die ich las, die Filme, die ich sah, und die Art und Weise, wie andere mit mir auf dem Schulhof umgingen, beigebracht, dass eine Behinderung etwas Schlechtes ist. All diesen Quellen zufolge machte mich das irgendwie zu einem weniger guten Menschen, als ich es gewesen wäre, wenn ich nicht gehumpelt hätte. Als ich mit “Disfigured” meine eigene Geschichte aufschrieb, wollte ich dieses Narrativ ändern - die Geschichte für mich zurückgewinnen und über meine Behinderung als einen Ort des Stolzes in meinem Leben sprechen. Ich bin, wer ich bin, weil ich behindert bin, weil ich in einem Körper lebe, der hinkt. Ich wollte mir das zu eigen machen und hoffentlich anderen behinderten Menschen - vor allem behinderten Kindern - zeigen, dass sie ihr eigenes Leben und ihre eigene Art, in der Welt zu sein, durchaus schätzen können. Wir können so viel von den Unterschieden der anderen lernen, und ich wollte mit meiner Geschichte auf diese Möglichkeit hinweisen, wenn auch nur auf eine kleine Weise. Ist der sehr medizinisch orientierte Blick auf Behinderungen heutzutage ein Problem? Deutet er darauf hin, dass wir "einfach nur das Heilmittel oder die Medizin finden müssen"? Wie bei allen anderen Dingen auch, denke ich, dass dies eine komplizierte Frage ist, die auch eine komplizierte Antwort verdient! Es reicht nicht aus, zu sagen, dass wir uns nicht mehr auf den medizinischen Aspekt von Behinderung konzentrieren sollten, sondern nur auf die Verbesserung der gesellschaftlichen Akzeptanz. Die Realität ist, dass wir uns auf beides konzentrieren müssen. Viele behinderte Menschen wünschen sich eine Heilung für ihre Behinderung, und das ist völlig in Ordnung! Aber wir sollten auch dafür sorgen, dass die Welt, in der wir leben, alle Menschen mit Behinderungen willkommen heißt und unterstützt, damit die Menschen nicht das Gefühl haben, sie müssten ein "Heilmittel" finden und sich selbst verändern, um die Hilfe und Unterstützung zu bekommen, die sie brauchen, um erfolgreich zu sein. Wir müssen uns auf beides konzentrieren: eine zugängliche Welt zu schaffen, in der sich jeder wertgeschätzt fühlt, und medizinische Lösungen (Operationen, Physiotherapie, andere Therapien usw.) anzubieten, die jedem Behinderten zur Verfügung stehen, der sie wünscht. Ein zentraler Punkt des Buches ist, dass im Märchen das Happy End möglich ist, wenn die Behinderung überwunden oder beseitigt wird. Die behinderte Person muss sich also ändern, nicht die sie umgebende Gesellschaft. Sie schlagen stattdessen vor, dass Behinderung einfach ein normaler Teil des Lebens ist und ein normaler Teil der Geschichten sein sollte, die wir erzählen. Sind Geschichten so mächtig, so einflussreich? Wie kann man sie zurückfordern, von der Buchindustrie oder von Hollywood? Und, ebenfalls zu diesem Punkt: Mobbing ist ein großes Problem und trifft viele Menschen, die nicht "normal" sind, was die Erwartungen der Gesellschaft und ihre Rollenmodelle angeht. Können bessere Geschichten und ein anderer, inklusiverer Ansatz im Kinderbetreuungssystem hier eine Veränderung bewirken, hin zu einer Gesellschaft mit mehr Akzeptanz und weniger Mobbing? Ich glaube wirklich, dass Geschichten so mächtig sind und einen so großen Einfluss haben. Wenn Kinder sich in den Geschichten, die wir erzählen, nicht wiederfinden - und das gilt nicht nur für Behinderungen, sondern auch für andere Ausgrenzungen - wachsen sie mit dem Gefühl auf, dass sie nicht in die Welt gehören, die sie sehen. Sie verstehen auf einer intrinsischen Ebene, dass die Welt nicht für sie gemacht ist und sie nicht als wertvoll oder wichtig ansieht. Wir können dies ändern, indem wir diese traditionell unterrepräsentierten Geschichten in den Mittelpunkt der neuen Geschichten stellen, die wir erzählen. Behinderungen sind ein normaler, alltäglicher Teil des Lebens - sie betreffen nicht nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Jeder, der beispielsweise eine Brille trägt, hat eine Behinderung, auch wenn sie als sehr geringfügig angesehen wird. Aber wir neigen nicht dazu, das Tragen von Brillen (vor allem von solchen mit schwächerer Sehstärke) als Behinderung zu betrachten, weil unsere Welt sich so um die Brille herum geformt hat, dass sie als normal angesehen wird. Ich würde mir wünschen, dass wir Geschichten erzählen, in denen das Gleiche z.B. mit dem Rollstuhl passiert - dass es nicht als Problem angesehen wird, weil wir es einfach als selbstverständlich betrachten, dass manche Menschen einen Rollstuhl benutzen, um sich fortzubewegen! Dieser Ansatz gilt natürlich auch für das Kinderbetreuungssystem. Wenn wir unseren kleinen Kindern von Anfang an integrative Geschichten erzählen, verstehen sie schon sehr früh, dass die Welt gebaut werden kann und sich verschiebt, wächst und sich verändert, um alle Arten von unterschiedlichen Körpern und Lebensstilen aufzunehmen. "Das einzige Handicap ist eine falsche Einstellung!" - dieser böse Satz aus Ihrem Buch richtet sich nicht nur an Menschen mit Behinderungen, sondern auch an chronisch Kranke, an ältere Menschen und an alle, die schwach und "nicht gut/ produktiv genug" sind. In Ihrem Buch setzen Sie dagegen “ ...die Notwendigkeit eines umfassenden gesellschaftlichen Wandels, den Kampf gegen strukturelle Ungerechtigkeit…" Darin bin ich voll bei Ihnen, aber: Sind wir als Gesellschaft auf einem guten Weg? Oder müssen wir die Diskussion besser und gezielter führen? Wie bei so vielen Ansätzen, die wir in unserer heutigen Gesellschaft verfolgen, glaube ich, dass der Ansatz zum Aufbau einer neuen Welt Raum für eine Vielzahl von Möglichkeiten schaffen muss. Wir brauchen einen weitreichenden sozialen Wandel und Veränderungen in unserer gebauten Umwelt - wir brauchen einen Wandel, der auf einer breiteren systemischen Ebene stattfindet, aber auch einen Wandel, der vom Einzelnen ausgeht, also von Ihnen und mir. Wir müssen verstehen, dass es keine "Einheitsgröße" gibt, in die jeder hineinpassen muss. Für einige von uns ist eine positive Einstellung absolut hilfreich, um voranzukommen und zu gedeihen. Für andere kann eine positive Einstellung angesichts des weit verbreiteten sozialen Drucks und der Schwierigkeiten absolut toxisch sein. Es sollte nicht an der einzelnen behinderten Person liegen, die sehr realen, sehr dringenden, sehr schrecklichen systemischen sozialen Ungerechtigkeiten zu überwinden, die aus dieser ableistischen Denkweise resultieren. Ich denke, dass wir in diesem Bereich Fortschritte machen, aber wie bei allen Fortschritten geht es recht langsam voran. Ich möchte jeden ermutigen, der sich für diesen Wandel einsetzt, zu verstehen, dass es keine Einheitsgröße für alle gibt und dass die Idee einer barrierefreien Welt im Kern die Idee einer Welt ist, in der wir alle unterschiedliche Bedürfnisse haben, und alle diese Bedürfnisse verdienen es, erfüllt zu werden, unabhängig davon, welche es sind. Es geht nicht einfach darum, diese Bedürfnisse und Herausforderungen durch eine positive Einstellung zu "überwinden". Und je eher wir das auf gesellschaftlicher Ebene begreifen, desto eher kann es hoffentlich zu einem umfassenden Wandel kommen.
Ihr Buch konzentriert sich hauptsächlich auf westliche Märchen, die wir alle kennen - auch wenn viele Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund in dem Buch zu Wort kommen. Sind Menschen mit anderen Geschichten aus anderen Kulturkreisen zu Ihnen gekommen? Es würde mich interessieren, ob "körperliche Einschränkungen" in den Geschichten anderer Kulturen auf die gleiche Weise betrachtet werden.
Ursprünglich wollte ich mit dem Buch in jedem Kapitel verschiedene Märchen aus unterschiedlichen Kulturen behandeln. Aber das Buch wurde sehr schnell etwas anderes, als ich es schrieb, und ich erkannte, dass es für mich mehr Sinn machte, über westliche Märchen zu sprechen, da ich mit diesen am meisten vertraut war. Ich hoffe, dass “Disfigured” einen Beitrag zur kulturellen Diskussion in anderen Ländern leisten kann und andere Leser dazu anregt, ihre eigenen Märchen und Volksweisen zu betrachten und zu untersuchen, wie sich die Behindertenfeindlichkeit in diesen Märchen auswirkt. Haben Sie das Gefühl, dass Menschen mit Behinderungen ausreichend in den Prozess der Veränderung der Gesellschaft einbezogen werden? Werden ihre Stimmen gehört? Ich habe nicht das Gefühl, dass behinderte Menschen so sehr einbezogen werden, wie es sein sollte, nein. Ich denke, das ändert sich - sehr langsam - aber wir haben noch einen langen Weg vor uns. In den meisten Fällen wird immer noch davon ausgegangen, dass behinderte Menschen irgendwie weniger wert sind - dass wir nicht in gleicher Weise zur Gesellschaft beitragen können, dass wir eine Belästigung sind, oder eine Unannehmlichkeit. Oder dass nicht behinderte Menschen immer noch die besseren Experten für behinderte Menschen und ihr Leben sind. Der einzige Weg, dies zu ändern, besteht darin, dass wir mehr und mehr in die Welt hinausgehen. Wenn die Welt begreift, dass eine Behinderung eine ganz normale Tatsache ist - so wie die Welt begreift, dass das Tragen einer Brille eine normale Tatsache ist - dann können wir über eine gleichberechtigte Vertretung sprechen. Aber bis es so weit ist, muss noch viel passieren. |
| | Die Märchen und Geschichten, die wir als Kinder erzählt bekommen, prägen unsere Wahrnehmung der Welt. Was aber passiert, wenn man sich eher mit dem Biest identifiziert als mit der Schönen? In 80 von 200 Märchen der Brüder Grimm tauchen Figuren mit körperlicher oder geistiger Besonderheit auf. Voller Empathie verbindet Amanda Leduc eine kulturtheoretische Analyse der Märchen mit ihren persönlichen Erfahrungen aus dem Leben mit Zerebralparese. Sie nimmt die Gesellschaft in die Pflicht und fordert Raum für neue, für andere Geschichten, die Behinderung als gleichwertige Lebensrealität anerkennen: »Was passiert mit der Geschichte, wenn wir einander die Hand reichen?« |
| | II "Körperheimat" bei Off Europa 2023 |
| Drei Stücke des Festivals Heimat Landschaften beschäftigen sich mit dem Körper als Zuhause: |
| | Spiritual Boyfriends @ Alice Brazzit |
| Spiritual Boyfriends // Núria Guiu Sagarra Woher kommt die zunehmende Sucht nach Schön-sein, nach Gesundheit und Perfektion? Was verbindet Disziplin und Rausch? Ein Theaterabend über den Zusammenhang von Äußerlichkeiten und Machtstrukturen – vor dem Hintergrund von Spiritualität und Yoga. In dieser Welt bleibt der Körper ein Mittel zum Zweck, das geformt und trainiert wird. Und der digitale Raum bildet den Ort von Präsentation und Verkauf, von Sehnsucht nach Anerkennung, von Aneignung, Selbstoptimierung und falschem Schein. »Spiritual Boyfriends« ist eine intensiv dargebotene Soloarbeit, die eine aus dem Ruder gelaufene Körper-Welt-Beziehung abbildet. |
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| | | BODY - signature of (y)our life 2 @ Johannes Gibbert |
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| BODY – signature of (y)our life #2 // Teresa Stelzer Stell dir vor, du hättest eine Nacht Zeit, um den Sternen die Geschichte deines Körpers zu erzählen. Worüber würdest du reden? Über die Nase deines Vaters, die Narbe am Kinn? Über deine Fähigkeiten, (an)trainierte und verfeinerte, das Sitzen, das Laufen, das Tanzen vielleicht? Oder über Abstrakteres, über innere Bilder, gar Sehnsüchte? Mittels meditativer und somatischer Methoden sucht die Performerin Teresa Stelzer nach Wegen, die Erinnerungen ihres Körpers freizulegen und sie mit denen anderer Menschen in Beziehung zu setzen. |
| | | Der Morgen kann warten © Jörg Metzner |
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| Der Morgen kann warten // Theater Handgemenge Auf der Bühne, angedeutet, ein Pflegeheim. Und ein älterer Mann, der nicht schlafen will. Er hat Angst davor, dass seine Seele seinen Körper verlassen könnte. Er hält sich Nacht für Nacht mit Erinnerungen wach. Herr Petermann möchte sich noch nicht verabschieden, er möchte noch etwas erleben. Und so begibt er sich auf eine nächtliche Reise. Das poetische Schattentheater stellt eine einfache und doch so wichtige Frage: „Was wäre, wenn wir den Alten einfach zuhören und sie auf ihren (letzten) Wegen empathisch begleiten würden?“ |
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| | | Sascha Paar wurde in Österreich geboren und erhielt an der Ballettschule Reinisch in Graz seine erste Ballettausbildung, die er 2014 an der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden fortsetzte. Seit 2018 gehört er zum Ensemble der Theater Chemnitz. Neben seiner Liebe fürs Tanzen arbeitet er als Choreograph. |
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| Wie lange tanzt du jetzt? Wann wurde Dir klar, dass Du tanzen willst, tanzen musst - dass es vielleicht deine Berufung ist? Ich tanze seit ich 16 Jahre alt bin. Das ist sehr ungewöhnlich, weil man eigentlich viel früher damit beginnt. Ich denke, das ist auch ein Vorteil. Ich habe das Tanzen sehr selbstbestimmt begonnen und somit auch nie die Lust daran verloren. Anfangs war es keine “Liebe auf den ersten Blick” - ich glaube eher, ich habe die Herausforderung gesucht. Ich hatte die Idee, trotz meines späten Einstiegs den Sprung in eine professionelle Karriere zu schaffen - beinahe eine Unmöglichkeit. Es gelang mir mit der Unterstützung meines Mentors und Trainers Karl Reinisch, und es wurde schnell eine Berufung daraus. Zu Beginn war ich sehr fokussiert auf Ballett, inzwischen ist es jede Art von kreativem Tanz, die mich fasziniert - und das ist auch mein Fokus derzeit: Ich suche Menschen um mich herum, die für den Tanz als Kunst brennen. Ich sehe den Tanz nicht nur als Arbeit, sondern als Leidenschaft. Du hast begonnen, auch choreografisch zu arbeiten. Was sind deine Ziele in diesem Bereich? Gibt es Vorbilder? Diese Frage ist sehr aktuell, denn ich beginne gerade meine Arbeit als freischaffender Künstler und Choreograph. Von Anfang an wollte ich das immer machen, ein Kreativschaffender sein. Als Tänzer setzt du oft die Ideen anderer um, ich aber möchte an meinen eigenen Ideen arbeiten und an ihnen wachsen. Ich wünsche mir eine Gruppe, in der man zusammen für ein gemeinsames Ziel arbeitet. Und ich möchte neue Konzepte erproben, die man an Stadttheatern so nicht umsetzen kann. Eigentlich glaube ich, dass ein Arbeiten auf Augenhöhe und ein moderner, offener Zugang zu Theater und Tanz auch an festen Häusern möglich sein könnte, allerdings dreht sich in der Realität des Theaterbetriebes vieles dann doch um alte hierarchische Strukturen. Ein großes Vorbild ist für mich Marco Goecke (der ehemalige Ballettdirektor der Staatsoper Hannover, Anm. d. Red.). Er ist gerade in diesen Skandal verwickelt, aber ich habe ihn immer dafür bewundert, dass er eine Idee davon hatte, was er sein wollte und was er tun wollte - und dass seine Kunst für ihn immer an allererster Stelle steht. Chemnitz, wie auch der Osten Deutschlands insgesamt, gilt eher als skeptisch bis fremdenfeindlich - eher nicht offen und tolerant. Das Opernensemble ist eine sehr internationale Company. Hast Du in Chemnitz schlechte Erfahrungen gemacht oder von schlechten Erfahrungen in Eurem Ensemble gehört? Ist das oft Thema, oder gar ein Grund, warum Tänzer:innen die Stadt wieder verlassen wollen? Ich wohne jetzt seit fast 10 Jahren im Osten, erst in Dresden, jetzt in Chemnitz, und ich hatte eigentlich noch nie große Schwierigkeiten - aber das liegt wohl auch daran, dass ich Deutsch spreche. Ich habe aber hier von vielen Menschen unserer Tanzcompany gehört, dass sie schlechter behandelt werden, wenn sie kein oder nur wenig Deutsch sprechen. Auch die Hautfarbe spielt da eine Rolle. Zum Glück ist aber noch niemand in meinem Umfeld Opfer einer Aggression geworden. Andererseits, was mir auch auffällt: Man traut den Menschen in Chemnitz, vielleicht im gesamten Osten, weniger zu, das merke ich z.B. im Theaterbetrieb und ich finde das schade. Denn: wenn man nicht versucht, hier neue Ideen umzusetzen, wie will man wissen, ob die Leute nicht doch dafür offen sind? Und wie will man es zukünftig ändern, wenn man nicht irgendwann einmal beginnt? Die Gleichstellung aller Geschlechter und das Verhindern von Diskriminierungen aller Art rücken immer mehr in den Fokus der gesellschaftlichen Debatte. Deine Choreografie “Misfit Divas” beschäftigt sich mit Rollenbildern, mit den gewünschten und den gesellschaftlich aufgezwungenen. Hat das Thema für Dich einen besonderen Stellenwert? Bist Du selbst aktiv? Dieses Thema ist mir wichtig und stand für mich immer im Mittelpunkt, denn schon als Kind habe ich damit schwierige Erfahrungen gemacht. Da ich nicht gern mit typischem Jungenspielzeug spielte und mich lieber verkleidete, empfahl man meinen Eltern schon zu meiner Kindergartenzeit, dass sie mich einem Psychologen vorstellen sollen. Zum Glück würde so etwas heute wohl nicht mehr passieren, die Gesellschaft ist da offener geworden. Die ganze Diskussion: Was ist männlich? Oder: Was ist weiblich? - dagegen kämpfe ich an. Ich selbst identifiziere mich als Mann, aber vereine in mir zwei Seiten, die ich schätze, die ich stärke und auch nach außen trage. Ich glaube, wir alle vereinen beide Seiten in uns, werden aber gesellschaftlich ständig in Schubladen gesteckt. Ich bin nicht politisch aktiv, wohl weil ich zu emotional verwickelt bin in die Thematik. Aber ich versuche, in meinem Umfeld aufzuklären und ich verarbeite das Thema in meinen Stücken. Gerade bei “Misfit Divas” steht das im Mittelpunkt, das Heraustreten aus stereotypen Geschlechterrollen, das Sich-Besinnen auf unser pures Selbst. Ich freue mich sehr, dass sich gesellschaftlich viel verändert gerade, dass eine rege Debatte geführt wird, und das mehr safe spaces entstehen, für Menschen, die sich nicht als hetero-normativ empfinden.
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| | Lavinia Chianello ist bildende Künstlerin und arbeitet mit textilem Material, Malerei, Video und Installationen. Geboren in Palermo/ Italien, lebt sie seit 2008 in Chemnitz. Für diese Fotoserie gab sie uns einen exklusiven Einblick in die Vorbereitung ihrer aktuellen Ausstellung „Storyboard: 2 Seconds“, die ab 19. August in Kemlitz/ Brandenburg zu sehen sein wird. |
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| | | Lavinia Chianello über Heimat, Reisen und Sehnsucht Nach Abschluss meines Studiums an der Akademie der Schönen Künste in Palermo begann ich zu reisen und ich hörte nicht mehr damit auf - im Griff eines unstillbaren Durstes nach Emotionen, die ich versuchte, in etwas Greifbares zu verwandeln. Diese Dynamik, auch wenn sie mit der Zeit immer schwieriger zu verwirklichen ist, ist das, was mich am Leben hält. Ich weiß, dass ich nicht aufhören kann, noch nicht. Aber ich weiß, dass ich die letzten Jahre meines Lebens in Palermo verbringen und dort sterben möchte. Denn diese Stadt ist schließlich mein perfekter Ort, an dem alles Unerwartete sein Gleichgewicht findet. |
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| | | | | V Eliška Říhová und Alžběta Nováková |
| Regisseurin und Dramaturgin Eliška Říhová und Co-Regisseurin und Schauspielerin Alžběta Nováková sprechen über ihr Stück “Arrival”, welches die Situation schwerbehinderter Menschen auf der Theaterbühne verhandelt. |
| | | Was war die Motivation dahinter, "Arrival" auf die Bühne zu bringen? Alžběta Für mich ist dieses Thema sehr persönlich. Ich habe im Alter von 17 Jahren begonnen, mit Menschen mit schweren körperlichen Einschränkungen zu arbeiten. 2018, als ich mein Studium “Alternatives - und Marionettentheater” an der DAMU in Prag begann, habe ich auch eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin abgeschlossen und nebenher angefangen, als persönliche Assistentin zu arbeiten. Unter Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu sein, begleitet mich also durch mein ganzes Leben als Künstlerin. Ich habe viel über das Leben, Kommunikation, Freiheit, Bescheidenheit, Zeitwahrnehmung, Solidarität, Stereotypen und Respekt gelernt. Mir wurde klar, dass das Theater eine großartige Plattform ist, um Menschen zusammenzubringen und um miteinander ins Gespräch zu kommen. Ich habe mich auf eine Ausschreibung des Theaters Vzlet für junge Künstler mit dem Titel The Nobody's Land beworben, bei der Projekte gesucht wurden, die auf dokumentarischem Material basieren oder sich mit "blinden Flecken" in der Gesellschaft befassen - und wir wurden ausgewählt. Eliška: Alžběta trat an mich heran, und bat mich, an diesem Projekt mitzuarbeiten. Sie wollte eine Inszenierung mit fünf Menschen mit Behinderungen machen, aber da sie in erster Linie Schauspielerin ist, wandte sie sich an mich, um die Regie zu übernehmen. Ich habe mich dafür interessiert, wie unsere Gesellschaft mit diesen Menschen umgeht und wie sich ihr Leben tatsächlich von unserem unterscheidet. Am Ende entdeckten wir, dass uns die Gedanken und Vorstellungen über ein normales Leben verbinden, und das wurde für uns ein wichtiger Punkt bei der Entwicklung von Arrival. Ein Teil der Schauspieler in "Arrival" sind Menschen mit schweren körperlichen Einschränkungen. Wie haben Sie diese Schauspieler gefunden? Alžběta Es wurde eine einjährige Kampagne mit dem Namen The Fifth Level gestartet, die die Lebensqualität von fünf Menschen mit schweren körperlichen Einschränkungen untersuchte. Dabei wurde auch darauf hingewiesen, dass die finanzielle und soziale Unterstützung, die diese Menschen benötigen, um ein unabhängiges Leben führen zu können, unzureichend ist. Es ging im Wesentlichen darum zu erforschen, wie sich die Lebensqualität verändert, wenn man als Mensch mit einer solchen Behinderung über genügend finanzielle Mittel für eine persönliche Assistenz verfügt. Und da ich für die Organisation Asistence o.p.s. arbeite und alle fünf Teilnehmer der Studie persönlich kenne, habe ich beschlossen, sie zu fragen, ob sie Lust hätten, gemeinsam mit uns ein Theaterstück zu erarbeiten. Wie schwierig war die reine Arbeitsorganisation, die Logistik der Proben und Aufführungen? Alžběta Es war eine ganz besondere Erfahrung für mich und auch für das ganze Team und ich nehme an, auch für das Theater Vzlet. Es erforderte eine gewisse Vorbereitung und Sorgfalt. Wir mussten viel mit der Organisation Asistence o.p.s. zusammenarbeiten, denn die persönlichen Assistenten wurden über den gesamten Probenzeitraum benötigt. Und wir hatten ein wenig mit dem Zeitmanagement zu kämpfen, mit Barrieren im Raum und auch damit, dass diese Menschen alles langsamer machen. Wissen Sie mehr über die Motivation der Darsteller:innen an etwas teilzunehmen, dass für sie eine solche Herausforderung darstellt? Eliška Die gesamte Probenarbeit konnte nur stattfinden, weil diese fünf Personen ein Jahr lang in das Programm The Fifth Level aufgenommen wurden. Das heißt, sie konnten unbegrenzt viele Stunden mit Assistenten arbeiten und somit auch zeitaufwändige Aktivitäten durchführen. Sie wollten also unbedingt Dinge tun, die sie sonst nicht tun können. Ich denke, ihre Motivation war definitiv, dass sie neue Leute kennenlernen und Zeit mit ihnen verbringen konnten, und auch ein Interesse am Prozess der Stückentstehung, denn die meisten von ihnen hatten nicht viel Erfahrung mit Theater. Und für einige von ihnen war es wichtig, sich einfach dem Publikum zu stellen und den Leuten zu zeigen, dass man keine Angst haben muss. Waren sie an der Gestaltung ihrer Rollen beteiligt, und in welcher Weise? Eliška Ja, wir haben miteinander darüber gesprochen, was ihnen Spaß macht, was ihre Träume sind und was für sie schwierig ist. Fast jeder von ihnen hat ein Element aus seinem Leben in der Performance. Kateřina wirft Bälle, weil sie Boccia spielt, Michael lässt sich die Beine amputieren, weil er das schon seit mehreren Jahren will, und Kristýna kocht in der Show, weil sie das Kochen liebt und Köchin werden will. Als ich "Arrival" gesehen habe, hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, dass es einen großen Konsens mit allen Beteiligten gibt. Und dass es ein Thema ist, das auf der Bühne unbedingt erzählt werden muss. Aber unter den Besuchern gab es geteilte Meinungen über das Stück. Bekommen Sie distanzierte oder gar negative Reaktionen? Eliška Das Feedback ist wirklich sehr unterschiedlich. Es gibt Leute, die finden, dass das Stück ständig Grenzen überschreitet, und sie schätzen das. Andere finden, dass einige Szenen über das Ziel hinausschießen. Manchmal sind die Zuschauer enttäuscht, dass sie nicht mehr über die Schauspieler selbst erfahren haben. Sie wünschen sich, dass die Produktion noch mehr dokumentarischen Charakter hat. Aber genau das wollten wir vermeiden. Über jeden der Darsteller wird ein Dokumentarfilm gedreht, uns aber ging es darum, das Thema “Leben mit einer Behinderung” als gesellschaftliche Metapher zu behandeln.
Alžběta Ich glaube, die negativste Reaktion auf diese Aufführung war, dass es zu viel von den professionellen Schauspielern und zu wenig von den Schauspielern mit den Einschränkungen gibt. Und dass es zu sehr bestimmten Stereotypen folgt. In gewisser Weise ist dies das Thema, mit dem wir während des gesamten Prozesses am meisten zu kämpfen hatten, die Frage: Wie können wir die Nicht-Schauspieler selbst sprechen und spielen lassen, sodass es nicht die Stereotypen unterstützt? Entweder, indem wir einfach nur ein Kabarett machen und zeigen “was diese Leute alles selbst können, obwohl sie eine schwere Behinderung haben”, oder, indem wir den Protagonisten nicht erlauben, irgendetwas zu tun und stattdessen alles von den Profis gespielt wird - oder ein Weg dazwischen, und das haben wir versucht. (übersetzt aus dem Englischen) |
| | | Silke Weizel wurde im April 1971 in Karl-Marx-Stadt geboren. Sie ist mit ihrer Heimatstadt bis heute verbunden. Neben ihrem Beruf im Maschinenbau liebt sie das Schreiben, die Musik und die Kunst. Ihr erster Lyrikband “zwischen menschen und dingen” erschien 2022, das neue Gedicht “Selbstich & ichselbsT” erscheint in diesem Newsletter erstmalig. |
| Selbstich & ichselbsT Selbstich - in meiner nähe Selbstich - in meinem kokon aus achtlosigkeiten Selbstich - in meinem raum ungefühlter gefühle Selbstich - in all meiner grenzenlosen verletzlichkeit Selbst Ich Selbst Du zeigst mir michselbsT in deiner nähe - michselbsT in gedanken an dich - michselbsT im fluss der blüten und bäche ruhend - michselbsT ichselbsT - gelöst aus dem grauen nichts ichselbsT - gelöst aus den harten mauern der welt ichselbsT - gelöst aus dem lauten farbengewirr der ständig schreienden und deiner ruhigen stimme lauschend - WIR fehlt noch das jetzt das kommt noch
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| | | Off Europa Heimat Landschaften - Logo 2023 © Gabi Altevers |
| Zwischen 14. und 21. Mai 2023 werden wir in verschiedenen Spielstätten in Leipzig, Dresden und Chemnitz zeitgenössisches Theater und Tanz, Filme, Performances und Installationen präsentieren, die sich im weitesten Sinne mit dem Thema „Heimat“ beschäftigen. Das kann der eigene Körper sein, kann der Ort, das Land sein, wo man aufgewachsen und oder wo man angekommen ist, die Situation in der man lebt und oder arbeitet, kann „Wohlfühlen“ oder „fremd sein“ bedeuten. "Off Europa: Heimat Landschaften“, ein Jahrgang, der unterschiedliche Arbeitsweisen, verschiedene Herkünfte und mehrere Generationen von Theatermacher:innen in einem Programm vereinen wird. |
| | Off Europa 2023 hat auch einen Podcast. In sechs Folgen sprechen wir jeweils mit zwei Gästen über das Thema Heimat. Die Gäste sind entweder am diesjährigen Festival beteiligt und/oder haben aufregende, spannende, besondere Blickwinkel zum Thema Heimat. Drei Folgen sind bereits erschienen: In der ersten Folge sprechen die Aktivistinnen Jasmin Blümel-Hillebrandt und Anna Stiede über die dunkle Seite von Heimat; über Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus. In der zweiten Folge diskutieren Autorin Paula Irmschler und Sozialpädagoge und Berater Bernd Stracke über Punk, Zivilcourage und Rassismus. Die eben erschienene dritte Folge hat das Thema “Gastfreundschaft und Fremdsein”. Der Regisseur und Leiter des Thespis-Zentrums Bautzen, Georg Genoux, spricht darin mit Tänzerin und Choreografin Alma Toaspern. MODERATION Sarah Hofmann REDAKTION Sebastian Göschel PRODUKTION Eva Morlang, Good Point Podcasts SCHNITT Tina Küchenmeister |
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| Off Europa ist eine Büro für Off-Theater-Produktion und wird veranstaltet in Zusammenarbeit mit den Spielstätten LOFFT - DAS THEATER in Leipzig, dem Societaetstheater in Dresden und Klub Solitaer e.V. bzw. der Off Bühne Komplex in Chemnitz Off Europa wird wesentlich finanziert durch die Stadt Leipzig - Kulturamt
Off Europa: Heimat Landschaften wird unterstützt von der Landeshauptstadt Dresden - Amt für Kultur und Denkmalschutz und der Stadt Chemnitz Off Europa: Heimat Landschaften wird gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes. |
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